Snow White and the Seven Justices: US Supreme Court hebt kalifornische Jugendschutzvorschriften auf

Der Fall hatte als EMA v. Schwarzenegger begonnen, in die Geschichte des amerikanischen Spielerechts eingehen wird er als EMA v. Brown (denn so heißt der neue Gouverneur von Kalifornien): In einer gut 90 Seiten langen Entscheidung hat der US Supreme Court am 27. Juni 2011 die Jugendschutzbestimmungen des California Civil Code aufgehoben (Entscheidung Nr. 08-1448 im Volltext).

Mit 7 zu 2 Stimmen entschied das Gericht, dass die Bestimmungen, wonach gewalthaltige Spiele mit entsprechenden Alterskennzeichen versehen werden müssen und nur an Erwachsene abgegeben werden dürfen, die im ersten Verfassungszusatz der USA (First Amendment) garantierte Redefreiheit (Freedom of speech) verletzen.

Die Mehrheitsmeinung des Gerichts

Der Gang der Argumentation wird deutschen Juristen durchaus bekannt vorkommen: Das Gericht stellt zunächst fest, dass der Schutzbereich dieses Grundrechts eröffnet ist, weil gewalthaltige Kommunikation, anders als etwa „obscenity“, also Obszönitäten nicht zu den von vorne herein vom Schutz der freien Rede ausgenommenen Kategorien von Inhalten zählt. Daher sei es auch unerheblich, dass die Formulierungen in den angegriffenen Vorschriften fast wörtlich den Formulierungen eines zuvor vom Supreme Court gebilligten Gesetzes über Einschränkungen der Verbreitung „obszöner“ Inhalte entsprächen.

Dass Gewalt, anders als „Obszönität“ keineswegs traditionell als unzulässig oder für Kinder ungeeignet angesehen wurde, bringt Richter Scalia in der Entscheidung unter Verweis auf Grimm’sche Märchen zum Ausdruck:

Grimm’s Fairy Tales, for example, are grim indeed. As her just deserts for trying to poison Snow White, the wicked queen is made to dance in red hot slippers “till she fell dead on the floor, a sad example of envy and jealousy.” Cinderella’s evil stepsisters have their eyes pecked out by doves. And Hansel and Gretel (children!) kill their captor by baking her in an oven.

Eine Einschränkung der Freiheit eines jeden Publishers oder Händlers, solche Kommunikation gerade auch an Kinder zu richten, sei daher rechtfertigungsbedürftig. Dies erfordert nach amerikanischer Doktrin ein zwingendes staatliches Interesse („compelling state interest“), und die eingesetzten Mittel müssen strikt erforderlich sein („narrowly tailored“ – also eine dem Problem auf den Leib geschneiderte Lösung darstellen).

Das Gericht verneint beides. Es trennt leider in der Argumentation nicht sehr sauber zwischen den Kriterien, hebt aber hervor, dass eine Einschränkung der Redefreiheit jedenfalls einen Beweis erfordere, dass gewalthaltige Videospiele für Kinder schädlich seien. Studien würden allenfalls eine Korrelation, aber keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Konsum solcher Spiele und gewalttätigem Verhalten beweisen. Die verbleibende Unsicherheit gehe wegen des großen Gewichts der Redefreiheit zulasten des Staates.

Der Interaktivität von Computerspielen misst das Gericht dagegen keine Bedeutung bei. Diese sei nicht so ausgeprägt oder so besonders, dass sie ein Abweichen von der allgemeinen Dogmatik des „freedom of speech“ rechtfertige.

Ferner äußert das Gericht Zweifel daran, dass der behauptete Zweck des Gesetzes – der Jugendschutz – auch das wahre Motiv hinter den Vorschriften sei, weil Minderjährige mit Zustimmung der Eltern immer noch Zugriff auf diese Inhalte bekommen könnten. Das ist schon paradox: Der Vorwurf des Gerichts an dieser Stelle – das Gesetz sei „underinclusive“ – bedeutet nichts anderes als dass der Gesetzgeber zu weit gegangen ist, weil er nicht weit genug gegangen ist…

Abweichende Meinungen

Nicht alle Richter wollten sich dieser Analyse anschließen. In einem im Ergebnis zustimmenden Sondervotum der Richter Alito und Roberts heißt es, die Herangehensweise der Mehrheit sei insgesamt angreifbar; auch müsse der interaktive Charakter von Videospielen stärker berücksichtigt werden. Im Ergebnis sei das Gesetz dennoch verfassungswidrig, da die Definition des gewalthaltigen Spiels, auf der die Einschränkungen beruhen, nicht hinreichend bestimmt sei. Das erinnert an die Auslegungsprobleme im Zusammenhang mit dem deutschen Gewaltdarstellungsverbot des § 131 StGB (welchen das BVerfG jedenfalls nach näherer Maßgabe seiner Rechtsprechung für ausreichend bestimmt hält).

Zwei Richter dagegen haben in Minderheitenvoten ihre Ansicht erläutert, wonach das Gesetz einer Prüfung am Maßstab des ersten Verfassungszusatzes standhält. Für Richter Thomas ist schon der Schutzbereich nicht eröffnet: Der Inhalt des Zusatzartikels müsse im Licht der zeitgenössischen Vorstellungen ermittelt werden. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hätten indes die Eltern volle Kontrolle über ihre Kinder ausgeübt, so dass eine Kommunikation Dritter mit Kindern an den Erziehungsberechtigten vorbei von vorne herein nicht geschützt werden sollte. Richter Breyer dagegen meint abweichend von der Mehrheitsmeinung, dass die Einschränkungen des California Civil Code durchaus verhältnismäßig seien. Insbesondere seien mildere Mittel, wie das Vertrauen auf eine freiwillige Einhaltung der ESRB-Empfehlungen durch den Einzelhandel, nicht gleich geeignet. Außerdem führe die Mehrheitsmeinung zu einer „Anomalie“ in der Dogmatik der freien Rede:

I add that the majority’s different conclusion creates a serious anomaly in First Amendment law. Ginsberg makes clear that a State can prohibit the sale to minors of depictions of nudity; today the Court makes clear that a State cannot prohibit the sale to minors of the most vio­lent interactive video games. But what sense does it make to forbid selling to a 13-year-old boy a magazine with an image of a nude woman, while protecting a sale to that 13­ year-old of an interactive video game in which he actively, but virtually, binds and gags the woman, then tortures and kills her? What kind of First Amendment would permit the government to protect children by restricting sales of that extremely violent video game only when the woman—bound, gagged, tortured, and killed—is also topless?

Das Ende einer Entwicklung?

Kalifornien war nicht der einzige Staat, der in jüngerer Zeit Anläufe zur Beschränkung der Verbreitung gewalthaltiger Computerspiele unternommen hat. Die gerichtliche Überprüfung am Maßstab der US-Verfassung haben auch die entsprechenden Gesetze in Illinois, Minnesota, Missouri und Oklahoma nicht überstanden. Nachdem nun erstmals auch das oberste US-Bundesgericht in diesem Sinne entschieden hat, dürften solche Bestrebungen überall in den USA an Schwung verlieren.

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